„Blick von Williamsburg, Brooklyn, auf Manhattan, 9/11“ von Thomas Hoepker aufgenommen, gehört zu den bedeutendsten ikonischen Fotografien der letzten Jahrzehnte und ist Teil des kollektiven Gedächtnisses geworden; nicht zuletzt, weil die Terroranschläge auf das World Trade Center den tiefsten historischen Einschnitt unserer jüngeren Geschichte darstellen.

Die Art und Weise, wie die Katastrophe erzählt wird, ist zu einem eigenständigen symbolischen Bild des Ereignisses geworden. Hoepker stellt eine scheinbar beiläufige Erzählung in den Mittelpunkt der Geschichte. Das fast wie ein klassisches Gemälde aufgebaute Foto stellt die Figurengruppe, die die Katastrophe hinter sich zu ignorieren scheint, in den Mittelpunkt des Bildes.

Die kunsthistorischen Vergleiche mit Gemälden (Breughels „Sturz des Ikarus“, Gericaults „Floß der Medusa“ und Caspar David Friedrichs „Mönch am Meer“), die vielfältigen Interpretationen der dargestellten Situation und die hitzige Kontroverse über Patriotismus, die das Bild nach einem Artikel von Frank Rich in der New York Times in den USA auslöste, zeigen die künstlerische Qualität und gesellschaftliche Bedeutung dieser Fotografie. Das Bild ist mittlerweile in unzähligen Fotobüchern und Übersichtswerken der Fotografie abgedruckt und gehört zu den wahren Ikonen der Mediengeschichte. Das berühmte Buch PHOTO ICONS (Taschen Publ.) listet die 50 berühmtesten und bedeutendsten Fotografien der Mediengeschichte auf, zu denen als jüngste Fotografie „Blick von Williamsburg, Brooklyn, auf Manhattan, 9/11“ gehört und neben Cartier Bressons „Decisive Moment“ und Robert Capas „Falling Soldier“ steht. Zuletzt erschien im Frühjahr dieses Jahres das Buch „Ein Bild und seine Geschichte – Thomas Hoepker, Blick von Williamsburg, Brooklyn, auf Manhattan, 11. September 2001“ im Schirmer & Mosel Verlag.


DIE GESCHICHTE
Am Tag vor den Anschlägen auf die Türme fand in New York die Jahresversammlung der Fotoagentur Magnum statt, viele namhafte Fotografen waren also in New York. Am Morgen erhielt Hoepker einen Anruf von der Agentur und wurde über eine Veranstaltung in Manhattan informiert. Er schaltete den Fernseher ein und sah in diesem Moment, wie das zweite Flugzeug in die Türme stürzte. Hoepker, der seit Ende der 1970er Jahre in New York lebte, verließ kurz darauf seine Wohnung in der Upper East Side, um zum Ort des Geschehens zu gelangen. Da die U-Bahn nicht mehr fuhr, versuchte er, mit dem Auto dorthin zu gelangen. Wegen des starken Verkehrs und der bereits angeordneten Sperrungen machte er einen Umweg über Queens und Brooklyn. Unterwegs kam er zu einem italienischen Restaurant am East River in der Nähe der Williamsburg Bridge, auf dessen Gartenterrasse er den „Blick auf Williamsburg“ und zwei weitere Aufnahmen desselben Motivs machte. Die Fotos machte er mit seiner analogen Canon EOS-Kamera und Fujichrome-Diafilm. Zu diesem Zeitpunkt waren beide Türme des World Trade Centers bereits eingestürzt.

Hoepker sagte später, er habe bewusst nicht mit den Beteiligten gesprochen: „Als Fotojournalist tue ich alles, was in meiner Macht steht, um die Ereignisse, deren Zeuge ich werde, nicht zu beeinflussen.“ Würde man ein Gespräch beginnen oder um Erlaubnis fragen, würde man jede authentische Situation im Handumdrehen verändern.“

Hoepker verzichtete zunächst auf die Veröffentlichung des Fotos, da ihm die abgebildeten Personen von den Ereignissen zu unbewegt erschienen. Erstmals wurde es 2005 in einer Wanderausstellung zu Hoepkers Werken der Öffentlichkeit präsentiert.


2006 griffen auch US-Medien das Foto auf. In diesem Jahr wurde es in dem Buch „Watching the World Change“ von David Friend veröffentlicht, das die Geschichten hinter den Bildern vom 11. September beleuchtet. Hoepker vertrat darin die Ansicht, die abgebildeten Personen seien von den Ereignissen nicht bewegt. Frank Rich schrieb anlässlich des fünften Jahrestages der Anschläge einen Gastbeitrag für die New York Times. Darin warf er seinen Landsleuten und der US-Regierung vor, nicht aus den Anschlägen gelernt zu haben. Zudem sei man, wie in den USA üblich, zu schnell zum business as usual übergegangen. In diesem Zusammenhang verweist er auf Hoepkers Foto, das er als Vorhersage dieser Entwicklung sieht. Aus seiner Sicht scheinen die Menschen zu plaudern und die Sonne zu genießen. Insofern sind sie nicht unbedingt gefühllos, sondern einfach amerikanisch. Kurz darauf erschien ein Artikel im Online-Magazin Slate, in dem David Plotz Ritchins Ansichten zu dem Foto widersprach. Ihm schienen die Menschen über die Anschläge zu diskutieren. Auch Thomas Hoepker meldete sich zu Wort und seine Stellungnahme wurde daraufhin im Slate Magazin veröffentlicht.

Der Artikel in der New York Times (Wie patriotisch sind die USA heute?) löste in den USA eine Kontroverse über die Interpretation des Fotos aus, wobei sich zwei der abgebildeten Personen zu Wort meldeten und erklärten, sie hätten während der Aufnahme des Fotos über die Anschläge gesprochen. In der Folge begannen sich immer mehr Kunst- und Medienwissenschaftler mit der Fotografie zu beschäftigen und veröffentlichten Essays, Bücher und Artikel.

Insgesamt bietet das Foto eine Möglichkeit, über Distanz und Nähe, Gefühllosigkeit und Empathie gegenüber Gewalt und Katastrophen im 21. Jahrhundert nachzudenken. Auf allen Ausstellungen seit 2005 war es ein Publikumsmagnet, die Menschen begannen vor dem Bild miteinander zu reden, es vereinigte die Menschen. Jeder erinnert sich, was er im Moment der Anschläge getan oder wo er war.

Buchkunst Berlin Galerie auf der photo basel 2023. Thomas Gust geht während zahlreichen Führungen auf die Geschichte des Bildes „9/11 Williamsburg, NY, USA“ von Thomas Hoepker ein.

Ausstellung „Thomas Hoepker – My Way, USA“ im Amerikahaus in München kuratiert von Ana Druga, Thomas Gust und dem Team vom Amerikahaus München.

Titelbild: ©Thomas Hoepker / Magnum Photos: 9/11 Williamsburg, NY, USA