DIETER KELLER – DAS AUGE DES KRIEGES / UKRAINE 1941/42
Dieter Keller (1909–1985), als Sohn des erfolgreichen Inhabers des Franck-Kosmos Verlagshauses geboren, war vor und während des 2. Weltkrieges eng mit Künstler*innen der Neuen Sachlichkeit und des Bauhauses befreundet. Der über viele Jahre gepflegte Kontakt zu Willi Baumeister, Alexej von Jawlensky, Ida Kerkovius und eine in über 90 Briefen belegte Freundschaft mit Oskar Schlemmer formten sein künstlerisches Sehvermögen und beeinflussten seine fotografischen Bildkompositionen wesentlich. 1941/42 war Dieter Keller als deutscher Soldat im Grenzgebiet zwischen Ukraine und Weißrussland stationiert. In dieser Zeit gelang es ihm trotz eines strengen militärischen Verbots, Zivilisten und Kriegsopfer zu fotografieren, mehrere Filme heimlich zu belichten und nach Deutschland zu schmuggeln. Keller fotografierte mit einem sowjetischen Leica-Nachbau, einer sogenannten Fedka. Nach dem Krieg entwickelte er die Kleinbildfilmrollen in seinem Haus in Stuttgart-Vaihingen und fertigte 201 Vergrößerungen als Unikate an. Die auf der Trägerbasis Nitrocellulose hergestellten Negativfilme verbrannten 1958 durch Selbstentzündung. Dieter Kellers benutzt sehr früh die Mittel der seriellen und informellen Fotografie und erzeugte filmisch anmutende Bildsequenzen, um eine subjektive Realitätserfahrung anzuregen. Die fotografische Übertragung von Bildern der Grausamkeit und apokalyptisch anmutender Zerstörung in abstrahierende und formale Bildkonstruktionen führt daher bei Keller nicht zu dem gewohnheitsmäßig emotionalen Verflachungs- und Abstumpfungsprozess dokumentarischer Fotografie, sondern intensiviert die subjektive Betroffenheit. Auch nach heutigen Maßstäben folgt Dieter Keller einer modern anmutenden Bildästhetik, die einerseits der Prägung durch seine Künstlerfreunde zu verdanken ist, andererseits aber auch deutlich macht, dass der künstlerisch geschulte Fotograf der Bauhauszeit die ästhetische Wahrnehmung generell als Schlüssel zur Realitätsverarbeitung und psychischen Bewältigung zu nutzen wusste. Insofern fügen sich seine verstörenden Bilder von Kriegsgräueln an der Zivilbevölkerung in die europäische Bildtradition von Kriegsdarstellungen ein, wie sie durch die Schreckensbilder von Hieronymus Bosch, Francisco de Goya oder Otto Dix geprägt wurde.
PRESSESTIMMEN
Thomas Wiegand, Idyllen und Schrecken, 12. April 2020
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